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31.12.2021

Wetterlexikon | Industrieschnee: Anthropogen verursachter Schneefall

Im ZAMG Wetterlexikon wird das Wetter in Ihrer Region von Meteorologinnen und Meteorologen der ZAMG erklärt.

Industrieschnee: Ein anthropogen verursachter Schneefall

Autor: Mag. Thomas Tureček, ZAMG Wien

Ein mächtiges Hochdruckgebiet mit dem Zentrum über der Ukraine ist während der Wintermonate oft für weite Teile Europas und damit auch für Österreich wetterbestimmend. Während über den Alpengipfeln die Sonne von einem nahezu strahlend blauen Himmel scheint, liegt über den großen Becken im Osten und Süden Österreichs zäher Hochnebel. Die Vorhersagemeteorologen und -meteorologinnen sprechen von ruhigem Winterwetter. Doch plötzlich schneit es in großen österreichischen Ballungsräumen (z.B.: in Wien, in Graz oder auch im Klagenfurter Becken) örtlich, und das mitten in einem Hochdruckgebiet. Wie kann das sein? Was ist passiert? Waren die Wettermodelle und die Wettervorhersagen falsch?

Die Kolleginnen und Kollegen der Vorhersageabteilung der ZAMG haben eine Erklärung dafür. Bei diesem lokalen Schneefall handelt es sich um Industrieschnee. Ein meteorologisches Phänomen, das in Verbindung mit stabilen Hochnebellagen im Bereich von großen Ballungsräumen bei bestimmten Voraussetzungen öfters beobachtet werden kann. Er entsteht durch Emissionen von Wasserdampf und Kondensationskernen großer Industrieanlagen, von Heizkraftwerken oder vom  Hausbrand, die in der Hochnebelschicht gefrieren, zum Teil auch resublimieren (direkter Übergang von Wasserdampf zu Eiskristallen) und als Niederschlag in Form von Industrieschnee zu Boden fällt. Industrieschnee ist somit ein Beispiel für eine anthropogene, das heißt von Menschen verursachte Beeinflussung, des Wetters.

Grundsätzlich kennen die Kollegen und Kolleginnen im meteorologischen Vorhersagedienst die Voraussetzungen, die für das Auftreten von Industrieschnee gegeben sein müssen, doch auf Grund der Grenzen der heutigen Wettermodelle kann Industrieschnee nicht in der gewohnten Qualität einer Wetterprognose vorhergesagt werden.    

Die größten Herausforderungen sind dabei:

Die horizontale Auflösung der aktuellen Wettermodelle: Wettermodelle umspannen wie ein Ballnetz unseren Planeten. Je feinmaschiger das Netz ist, desto besser ist die horizontale Auflösung der Wettermodelle. Die horizontale Auflösung eines Wettermodells ist von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig, vor allem aber von der Rechenleistung der heutigen Computeranlagen. Heutige Wettermodelle können Industrieschnee auf Grund der geringen horizontalen Ausdehnung des Gebietes (Kleinräumigkeit), in dem Industrieschnee erwartet wird, nicht vorhersagen.

Standort von großen Emissionsquellen und sind diese gerade aktiv? Das Vorhandensein von künstlichen Quellen für Feuchte und Kondensationskerne kann als Quelle nicht in die Berechnung eines großräumigen Wettermodells miteinbezogen werden.

Aktueller Wissensstand: Derzeit noch geringes Wissen über die Entstehung dieses anthropogene Wetterphänomen.

Daraus folgt, dass die Vorhersagemeteorologinnen und die Vorhersagemeteorologen zwar die Voraussetzungen für das Auftreten von Industrieschnee gut abschätzen können, doch für konkrete Aussagen zu Industrieschnee in den Städten, die unter einer zähen Hochnebelschicht liegen, sind sie aufgrund der Kleinräumigkeit  dieses Phänomens eher auf Meldungen von Winterdienstfirmen angewiesen.

Allerdings wurde in der Vorhersageabteilung der ZAMG in den letzten Jahren ein sogenannter Industrieschneeindex entwickelt. Mit Hilfe dieses Index lässt sich bei Hochnebellagen zumindest die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Industrieschnee abschätzen.

Doch was sind nun die Voraussetzungen von Industrieschnee am Beispiel der großen Ballungsräume Wien, Graz und Klagenfurt?

Voraussetzung 1: Hochnebel über den großen Ballungsräumen

Das Auftreten von Industrieschnee ist grundsätzlich mit dem Vorhandensein von Hochnebel verbunden. Auf einzelne Fälle von Industrieschnee, die in Verbindung mit Bodennebel und künstlichen Beschneiungsanlage in Zusammenhang stehen, wollen wir in diesem Beitrag nicht eingehen.

Also: Ohne Hochnebel gibt es meist auch keinen Industrieschnee. Die Mechanismen zur Bildung von Hochnebel im Wiener und Grazer Becken, aber auch generell über inneralpinen Becken und Tälern zu beschreiben und zu erklären, würde hier den Rahmen sprengen. Lest dafür unseren Beitrag zu „Übeltäter Hochnebel“. Darin erfahrt ihr Grundsätzliches über die Wetterphänomene Nebel und Hochnebel und speziell über die Entstehungs- und Auflösungsmechanismen des Hochnebels über dem östlichen Flachland in Österreich.

Aus diesem Grund hier nur eine kurze Zusammenfassung: Für das Auftreten von Hochnebel am Ostrand des Alpenbogens, speziell aber in den großen Becken im Osten und Süden Österreichs, braucht es ein ausgeprägtes Hochdruckgebiet, das für einige Tage stabil mit seinem Zentrum am besten über Ungarn, Polen oder der Ukraine liegt. Durch Ausstrahlung in sternenklaren Nächten kühlt sich die Luft stark ab. Es kommt zur Ausbildung von sogenannten Inversionen, also zu einer Temperaturumkehr mit der Höhe. Normalerweise nimmt die Temperatur mit der Höhe ab. In einer Inversionsschicht nimmt jedoch die Temperatur mit der Höhe zu und bildet eine Art Deckel, wodurch der vertikale Austausch von Luft schwieriger wird. In der unteren Schicht sammeln sich so vermehrt Aerosole (kleine Partikel), die die Bildung von Tröpfchen um ein vielfaches verstärken und es kommt zur Ausbildung von Nebel. Durch thermische Prozesse am Tag steigt dieser Nebel auf und liegt schließlich als Hochnebel an der Inversionsschicht über den Becken und Tälern.

Hochdruckgebiete drehen sich auf der Nordhalbkugel generell im Uhrzeigersinn und bei der richtigen Lage dieser Hochdrucksysteme mit ihren Zentren über Europa, gelangt so während der Wintermonate kalte Luft aus dem Osten des Kontinents nach Österreich. Der Neusiedlersee im Nordburgenland und der Plattensee in Ungarn liefern hier ein zusätzliches Feuchteangebot. Die Hochnebelsituation verstärkt sich.

Der 18.12.2013 ist ein gutes Beispiel für eine klassische Hochnebelwetterlage in Österreich, speziell aber für das Grazer und Wiener Becken. An diesem Tag lag ein Hoch mit dem Zentrum östlich von Österreich. Durch die Lage des Hochdruckgebiets strömte mit einer südöstlichen Anströmung zusätzliche feuchte Luft vom Neusiedlersee und vom Plattensee in die Osthälfte Österreichs. Diese feuchte Luft staute sich am Wienerwald und am Alpenostrand und führte zu einer ausgeprägten Hochnebelschicht (Abbildung 1). 

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Abbildung 1: Bodendruck- und Wetterfrontenanalyse vom 20.12.2016 um 00:00UTC in Kombination mit einem Infrarot-Satellitenbild. Die Analyse zeigt das Bodenhoch im Osten Europas mit seinem Zentrum über Bulgarien und Rumänien. Quelle: ZAMG.

Voraussetzung 2: Verschärfung der Inversionsschicht über großen Ballungsräumen

Um einen Kaltluftsee und die nach oben abgrenzende Inversion, zum Beispiel im Wiener Becken erkennen zu können, stehen den Vorhersagemeteorologen und Vorhersagemeteorologinnen Radiosondenaufstiege zur Verfügung. Messgeräte steigen an einem gasgefüllten Ballon zu bestimmten Zeiten bis in hohe Schichten der Atmosphäre auf und messen neben der Windrichtung und der Windstärke die Temperatur und die Feuchte. Das Resultat ist ein vertikales Profil der Atmosphäre bis in Höhen von etwa 30km. Ein solches vertikales Profil ist in der Abbildung 2 dargestellt (zum besseren Verständnis schematisch).

Für den 18.12.20213 erkennt man eine deutliche Temperaturabnahme mit der Höhe in den untersten Schichten. Von etwa minus 3°C in 2m Höhe nimmt die Temperatur bis zur Inversion auf minus 8 Grad ab. Die Inversion liegt bei rund 900hPa, das entspricht einer Höhe von etwa 1000m Seehöhe über dem Meeresniveau, in Wien also 500 bis 800m über dem Boden. Durch die Inversion steigt die Temperatur über nur wenige Meter auf etwa 10 Grad an. Die Mächtigkeit der Inversion beträgt also 18°C. Oberhalb der Inversion nimmt die Temperatur schließlich mit der Höhe wieder ab.

Das Feuchteprofil auf der linken Seite zeigt eine hohe Luftfeuchte in der kalten Schicht unter der Inversion. Oberhalb dieser Schicht nimmt die Feuchte stark ab. Das bedeutet, dass die Inversion kalte und feuchte Luft unten, von trockener und warmer Luft darüber abtrennt.

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Abbildung 2: Schematische Darstellung des Radiosondenaufstieg Wien Hohe Warte vom 18.12.2013 00:00UTC. Das vertikale Temperaturprofil zeigt einen ausgeprägten Kaltluftsee im Wiener Becken, der auf etwa 1000m Seehöhe von einer mächtigen Inversion von rund 18°C nach oben abgegrenzt ist. Solch stark ausgeprägte Inversionen sind eine Voraussetzung für Industrieschnee. Quelle: ZAMG.

Je länger sich Inversionswetterlagen über Österreich halten, desto stärker kann sich die darunter liegende Kaltluftschicht ausbilden. Für ein begünstigtes Auftreten von Industrieschnee im Wiener Becken sowie im Grazer Raum muss die Temperatur am oberen Rand der kalten Schicht deutlich in den negativen Bereich sinken. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Temperaturen unter minus 7°C hier entscheidend sind. Innerhalb der Inversionsschicht steigt schließlich die Temperatur oft in nur wenigen Metern um 10 bis 25°C an. 

Begünstigt wird das Auftreten von Industrieschnee außerdem durch eine zusätzliche Erwärmung oberhalb der Inversionsschicht. Durch ein Italientief, das mit seinem Kern z.B. über Oberitalien oder über der oberen Adria liegt, wird warme und feuchte Luft vom Mittelmeer in Richtung Alpenbogen geführt. Diese warmen Luftmassen aus dem Süden sind leichter als die kalte Luft, die in den Becken und Tälern Österreichs zum selben Zeitpunkt liegt, und gleitet so über die Kaltluftseen hinweg. Dies verursacht einen zusätzlichen Temperaturanstieg oberhalb der kalten Schicht in den Becken Süd- und Ostösterreichs und verstärkt die Inversionen so weiter. 

Die typische vertikale Mächtigkeit solcher Kaltluftseen liegt im Wiener- und Grazer Becken zwischen 500m und 1000m. Im Klagenfurter Becken reichen oft schon deutlich seichtere Kaltluftschichten, um Industrieschnee zu begünstigen. Bei frostigen Temperaturen am Boden kommt der künstlich erzeugte Niederschlag auch als Schnee an. Ist es hingegen in Bodennähe wärmer, nieselt es aus der Hochnebelschicht lediglich.  

Voraussetzung 3: ausreichendes Feuchte- und zusätzliches Aerosolangebot

Das Vorhandensein von ausgeprägten Kaltluftschichten, die von mächtigen Inversionen abgegrenzt sind, reicht jedoch nicht aus, um das anthropogene Phänomen des Industrieschnees erklären zu können. Anderenfalls müsste bei jeder Hochnebellage das Auftreten von Industrieschnee beobachtet werden können. Hier braucht es offenbar mehr.

Ein zusätzlicher entscheidender Faktor, um das Phänomen des Industrieschnees erklären zu können,  ist das Vorhandensein von „großen“ Industrieanlagen in Gegenden, in denen während des Winterhalbjahrs häufig Hochnebel beobachtet werden kann. Typische Bereiche in Österreich sind das Wiener und das Graz Becken, aber auch die Mur-Mürz Furche in der Steiermark sowie das Klagenfurter Becken im Süden und das westliche Donautal in Oberösterreich.

Diese Industrieanlagen liefern in einem 24 Stunden Betrieb über 7 Tage der Woche das zusätzlich benötigte Feuchte- und Aerosolangebot, das letztendlich die Auftrittswahrscheinlichkeit von Industrieschnee erhöht. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der Hausbrand (individuelles Heizen durch unterschiedliche Brennstoffe z.B.: Kohle, Briketts, Erdgas und auch Brennholz). Durch zunehmendes Umweltbewusstsein der Gesellschaft und durch bessere Verbrennungstechnologien verliert  dieser Faktor bei der Entstehung von Industrieschnee jedoch langsam an Bedeutung.

Voraussetzung 4: Wind aus bestimmten Richtungen, nicht zu starke aber laminare Strömung

Schwacher bis mäßiger Wind aus dem Südosten transportiert zusätzliche Feuchte vom Neusiedlersee und vom Plattensee ins Wiener Becken und fördert hier die Bildung von zähem Nebel und Hochnebel. Gleichförmig schwacher Südostwind lässt bei bestimmten Voraussetzungen auch die Wahrscheinlichkeit für Industrieschnee steigen (Abbildung 3). Ist der Wind jedoch zu stark und weht dabei böig, haben zahlreiche Fallbespiele aus den letzten Jahren gezeigt, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit von Industrieschnee deutlich abnimmt.

Dieser gleichförmige Wind ist außerdem dafür verantwortlich, dass Industrieschnee meist nicht direkt im Bereich der Industrieanlagen auftritt. Industrieschnee ist üblicherweise stromabwärts in die Richtung, in die der Wind weht, von den Industrieschornsteinen weg, zu beobachten. Je stärker der Wind weht (nur bis zu einer bestimmten Grenze), desto weiter vom Schornstein entfernt tritt Industrieschnee auf.

Durch die Südostanströmung kommt es außerdem im Bereich des Wienerwaldes zu einer zusätzlichen erzwungenen Hebung der feuchten Luft, die wahrscheinlich das Austreten von Industrieschnee weiter erhöht.

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Abbildung 3: Transport feuchter Luft mit Südostwind vom Plattensee in Ungarn und vom Neusiedlersee im Nordburgenland ins Wiener Becken. Quelle: ZAMG.

Bildung von Industrieschnee

Doch wie kommt es nun zur Bildung von Industrieschnee in unseren mächtigen Kaltluftseen?

Zusätzlicher Wasserdampf und Kondensationskerne aus den Schornsteinen steigen durch thermischen Auftrieb auf und breiten sich während zäher Hochnebelwetterlagen entlang der Inversionsschicht aus (Abbildung 4). Die Größe dieser Staubteilchen liegt zwischen 1 und 1000nm.

Durch das zusätzliche Feuchteangebot der Industrieanalagen übersteigt die Luftfeuchte geringfügig den Wert von 100%. Es kommt zu einer Übersättigung der Luft. Vorerst bilden sich aber noch keine zusätzliche Wassertröpfchen durch Kondensation. Als Zutat fehlen noch die Kondensationskerne. Befinden sich diese in ausreichender Menge in der Luft, setzt die Kondensation des Wasserdampfs an diesen Teilchen ein. Bei Zusammenstößen mit anderen Wassertröpfchen verschmelzen diese allmählich zu größeren Tröpfchen. Sinkt die Temperatur unter einen kritischen Wert, gefrieren diese Wassertröpfchen zu kleinen Eispartikeln (Eisnadeln). Auch resublimert ein Teil des in der Luft enthaltenen Wasserdampfes direkt an den Eiskristallen, geht also direkt von Wasserdampf in Eis über und trägt ebenfalls zum Kristallwachstum bei. Die Analysen von zahlreichen Industrieeschneefällen aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass diese kritische Temperatur am oberen Rand des Kaltluftsees um minus 7 Grad liegt. Durch diese Vorgänge werden die Teilchen immer schwerer, das Verhältnis zwischen thermischen Auftrieb und Wirkung der Anziehungskraft der Erde verändert sich und die Eisteilchen fallen als Industrieschnee zu Boden (Abbildung 4).

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Abbildung 4: Entstehungsmechanismen von Industrieschnee. Quelle: ZAMG.

Industrieschnee vs. „normaler“ Schnee

Der große Unterschied zu „normalem Schneefall liegt nun bei der Fallhöhe und daraus resultierend auch bei der Struktur des Schnees. Üblicherweise bildet sich Regen oder Schneefall in Höhen zwischen 1500 und 10000m Seehöhe über der Erdoberfläche. Für die Tröpfchenbildung und für das Gefrieren zu kleinen Eisteilchen, muss in diesen Höhen die Temperatur auf minus 5 bis minus 15°C absinken. Durch den langen Weg aus der Wolke zum Boden verschmelzen die kleinen Eiskristalle zu immer größeren Flocken. Wasserdampf, der an den Schneeflocken resublimert vergrößert diese zusätzlich. Am Ende fallen diese Flocken bei Temperaturen um den Gefrierpunkt als Schneeflocken zu Boden.

Industrieschnee bildet sich jedoch in deutlich geringeren Höhen. Während in Deutschland bei Hochnebellagen in den großen Industriegebieten im Westen des Landes sich Inversionsschichten, also der Übergang von der bodennah-kalten Luft in die milde Luft darüber, in Höhen zwischen 200 und 400m Seehöhe über Grund ausbilden, liegen diese in Österreich, z.B.: im Wiener und Grazer Becken in Höhen zwischen 800 und 1000m Seehöhe. Insgesamt ist der Weg durch die Atmosphäre, den die Eiskristalle aus der Hochnebelschicht bis zum Boden zurücklegen dadurch geringer. Bei Industrieschnee handelt es sich daher häufig um Eiskristalle und nicht um größere Schneeflocken, da die Eiskristalle nicht die Zeit haben, sich zu größeren Clustern zusammen zu formen. Industrieschnee wird deshalb oft auch als Schneestaub oder glitzernder Schneefall bezeichnet.

Die feinkörnige Struktur führt dazu, dass Industrieschnee leichter an Oberflächen anhaftet. Für Winterdienstfirmen bedeutet das eine erhöhte Gefahr von Glätte auf Verkehrswegen. Durch das verstärkte Anhaften an Oberflächen kommt es auch zu Problemen durch eine erhöhte Schneelast an Bäumen und Sträuchern (Abbildung 5).

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Abbildung 5: Bis zu 4 cm Neuschnee in Form von Industrieschnee im Bereich des Grazer Hauptbahnhofs (Steinfeldfriedhof). Quelle: ZAMG/Podesser.

Bei der chemischen Analyse von Industrieschnee zeigt sich außerdem, dass Industrieschnee viel stärker durch Schadstoffe belastet ist, als herkömmlicher Schnee. Dies ist durch seine anthropogene Entstehung (Einwirken von zusätzlichen Aerosolen) zu erklären.

Ein wichtiges Merkmal von Industrieschnee ist außerdem seine lokale Begrenzung. Während sich normaler Schneefall, in Verbindung mit wetteraktiven Systemen (z.B.: Warm- oder Kaltfronten) meist über große Gebiete erstreckt, tritt Industrieschnee lediglich in Gebieten auf, die unter zähem Hochnebel liegen und selbst dort auch nur in der Nähe von großen Industrieanlagen oder Heizwerken (Abbildung 6).

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Abbildung 6: (links) INCA-Niederschlagsanalyse vom 20.12.2016: Das Gebiet in dem Industrieschnee auftrat ist blau; (rechts) Industrieschnee im Innenhof des Arsenals in Wien am 20.12.2016. Quelle: ZAMG.

Fallstudie: Industrieschnee vom 21.11.2011

Doch nun genug Theorie. Der Industrieschnee kann am besten an Hand eines vergangenen Industrieschneeereignisses erklärt werden. Im Archiv haben wir den 21.11.2011 gefunden, an dem im Wiener Becken an vielen Stellen Industrieschnee von unseren Partnern im Winterdienst gemeldet wurde. Der 21.11.2011 war geprägt durch zähen Hochnebel, der auch schon ein paar Tage zuvor die Sonne über der Stadt Wien verdeckte. Dazu wehte anhaltend schwacher Wind aus Ost bis Südost, ein Garant für zähen Hochnebel während des Winterhalbjahrs im Wiener Becken.    

Wetterlage: Schauen wir uns die Wetterlage an Hand der Bodenanalysen an. Am 21.11.2011 um 00:00UTC (Abbildung 7, links) erstreckte sich ein mächtiges Hochdruckgebiet mit seinem Zentrum über Rumänien, über weite Teile West- und Mitteleuropas. In Hochdruckgebieten sorgen absinkende Luftmassen normalerweise für stabiles und sonniges Wetter. So befand sich am 21.11.2011 ein großes wolkenfreies Gebiet zwischen Frankreich im Westen und dem Schwarzen Meer im Osten.

Allerdings bilden sich unter dem Einfluss von hohem Luftdruck im Winterhalbjahr in Becken und Tälern häufig Nebel oder Hochnebel von unterschiedlicher Beständigkeit. An diesem 21.11. lag auch im Wiener Becken schon seit einigen Tagen zäher Hochnebel. Interessant ist auch das Tief, das mit seinem Kern am 21.11.2011 um 00:00UTC noch über dem westlichen Mittelmeer lag, aber in weiterer Folge für Österreich bedeutend wurde.

24 Stunden später, am 22.11.20211 um 00:00UTC (Abbildung 7, rechts) lag nach wie vor zäher Hochnebel über dem Flachland des Ostens. Das Zentrum des Hochs hatte sich jedoch weiter in Richtung Osten verlagert. Durch die Verlagerung des Hochs, schaffte es das Tief über dem westlichen Mittelmeer in Richtung Sardinien und schaufelte nun warme Luft von der oberen Adria in Richtung Norden, in Richtung Alpenraum. Da warme Luft leichter ist, als die kalte und feuchte Luft, die zur selben Zeit im Wiener Becken lag, schob sich die mediterrane Warmluft über den Kaltlustsee im Wiener Becken und verstärkte dort die Inversionsschicht deutlich.

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Abbildung 7: Bodendruck- und Wetterfrontenanalyse vom 21.11.2011 um 00:00UTC (links) sowie vom 22.11.2011 um 00:00UTC (rechts) in Kombination mit einem Infrarot-Satellitenbild. Die Analyse zeigt das Bodenhoch im Osten Europas sowie einen Tiefdruckwirbel mit seinem Frontensystem zunächst mit seinem Kern über dem westlichen Mittelmeer und schließlich mit dem Kern über Sardinien.

Die Lufttemperatur: Durch die stabile Lage des Hochs mit seinem Zentrum über dem Osten Europas gelangte auf einem Umweg über den Balkan kalte kontinentale Kaltluft nach Österreich. Entsprechend kalt war es im östlichen Flachland. Dies zeigen auch die Vorhersagen vom Europäischen Wettermodell (Wettermodell des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersage, oder kurz EZWMF) für den 21.11.2011. Das Wettermodell berechnete einen Temperaturverlauf für das Wiener Stadtgebiet von etwa minus 4°C um 03:00UTC auf maximal 0°C um die Mittagszeit des 21.11. (Abbildung 8).

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Abbildung 8: 2m Temperaturvorhersage für den 21.11.2011 03:00UTC (oben) und für den 21.11.2011 12:00 (unten) vom EZMWF-Wettermodell. Die beiden Temperaturkarten zeigen die vorhergesagte 2m Temperatur für den angegebenen Zeitpunkt (UTC= plus 1 Stunde während der Winterzeit für Lokalzeit in Mitteleuropa). Quelle: ZAMG.

Windstärke und Windrichtung: Wie bereits erwähnt, ist schwacher bis mäßiger Südostwind im Wiener Becken eine wichtige Zutat für beständigen Hochnebel, der wiederum eine Voraussetzung für Industrieschnee ist. Am 21.11.2011 weht über dem Flachland im Osten Österreichs den ganzen Tag über schwacher bis mäßiger Wind aus südöstlichen Richtungen. Die höchsten Windspitzen lagen im Bereich zwischen 20 und 30km/h. Dies zeigt auch die Vorhersagekarte des EZMWF Wettermodells für den 21.11 12:00 (Abbildung 9). Bei dem, in der Wetterkarte dargestellten Wind handelt es sich um Windspitzen, die in 10m über dem Boden auftreten. Auf der Vorhersagekarte zeigen die Windpfeile in die Richtung, in die der Wind weht. Bei Südostwind als in Richtung Nordwesten. Sind die Windpfeile mit einer türkisenen Farbe hinterlegt, bedeutet das vorhergesagte Windspitzen von rund 30km/h.

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Abbildung 9: Vorhersage der 10m Windspitzen für den 21.11.2011 12:00UTC des EZMWF-Wettermodells. Quelle: ZAMG.

Radiosondenaufstieg: Wie zu erwarten, zeigt der schematische Radiosondenaufstieg von Wien Hohe Warte vom 21.11.2011 um 00:00UTC einen mächtigen Kaltluftsee im Wiener Becken, der durch eine stark ausgeprägte Inversionsschicht (etwa 12°C) in einer Höhe von etwa 1000m Seehöhe, von deutlich wärmeren Luftmassen darüber abgegrenzt ist. In der kalten Schicht darunter zeigen die Messungen der Radiosonde außerdem eine hohe Luftfeuchtigkeit von über 90%. Oberhalb der Inversionsschicht nimmt die Luftfeuchte rasch ab (Abbildung 10).

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Abbildung 10: Schematische Darstellung des Radiosondenaufstieg Wien Hohe Warte vom 21.11.2011 00:00UTC. Das vertikale Temperaturprofil zeigt einen ausgeprägten Kaltluftsee im Wiener Becken, der auf etwa 1000m Seehöhe von einer mächtigen Inversion von rund 12°C nach oben abgegrenzt ist. Solch stark ausgeprägte Inversionen sind eine Voraussetzung für Industrieschnee. Quelle: ZAMG.

Zusammenfassung: Warum war an dem 21.11.2011 nun die Wahrscheinlichkeit für Industrieschnee hoch? Zu allererst erkannten die Vorhersagemeteorologinnen und Vorhersagemeteorologen an der ZAMG eine typische Hochnebellage für den Osten Österreichs. Diese Wetterlage hatte sich nicht erst vor ein paar Stunden aufgebaut, der Hochnebel lag schon seit ein paar Tagen zäh über dem Wiener Becken. Entsprechend stark war auch die Inversion ausgeprägt. Durch die Verlagerung des Tiefdruckwirbels über dem Mittelmeer in Richtung Italien gelangten warme Luftmassen aus dem Mittelmeer in Richtung Alpen und verstärkten durch steigende Temperaturen in höheren Luftschichten die Inversion deutlich. Zusätzlich wehte der Südostwind mit Windspitzen zwischen 20 bis 30km/h, der speziell für Wien eine wichtige Zutat für das Auftreten von Industrieschnee ist. Bei genauerer Betrachtung des Radiosondenaufstieg von 00:00UTC erkannten die Meteorologen und Meteorologinnen, dass am oberen Rand der kalten Schicht Temperaturen um minus 7 Grad herrschten. Auch dieser Umstand wurde bereits als wichtige Temperaturgrenze erklärt, damit sich industrieller Wasserdampf und kleinste Aerosolteilchen aus den Schornsteinen, in der Hochnebelschicht zu Wassertröpfchen formen, gefrieren und durch Resublimierung von Wasserdampf an den Tröpfen oder durch Zusammenstößen mit anderen Tröpfchen anwachsen und schließlich als Industrieschnee, stromabwärts von den Industriegebieten in Wien zu Boden fällt. Dies veranlasste die Kolleginnen und Kollegen der ZAMG Vorhersageabteilung eine Information über das mögliche Auftreten von Industrieschnee an die zuständigen Winterdienstfirmen auszugeben.

Und tatsächlich: Im Zeitraum zwischen dem 21.11.2011 13:00UTC und 22.11.2011 17:50UTC erreichten die Kollegen und Kolleginnen im Vorhersagedienst, zahlreiche Meldungen von lokal sehr begrenzt aufgetretenem Schneefall aus der Hochnebeldecke. Die beobachteten Niederschlagsmengen waren mit Spuren bis maximal 2cm im Osten der Stadt durchaus sehenswert. Insgesamt also ein schönes Beispiel von einem menschlichen Einfluss ins aktuelle Wettergeschehen.

Dieser Artikel erschien am 31.12.2021 und wurde am 13.1.2022 überarbeitet: Die Beschreibung des Hausbrands als Faktor bei der Entstehung von Industrieschnee wurde korrigiert.