Zukunft
Das genaue Ausmaß des zukünftigen Meeresspiegelanstiegs entscheidet über die Lebensgrundlage von Hunderten Millionen Menschen.
Die Höhe des Anstiegs ist nicht ausgemacht
Zur Abschätzung des zu erwartenden, global gemittelten Meeresspiegelanstieges im 21. Jahrhundert wird auf Klimamodelle zurückgegriffen, die auf die standardisierten Emissionsszenarien aufbauen. Dabei kommen gekoppelte Atmosphäre-Ozean-Klimamodelle sowie regionale Klimamodelle zum Einsatz. Letztere bieten die Möglichkeit, den nicht zu vernachlässigenden regionalen Variationen verschiedener Küstengebiete gerecht zu werden.
Von den Komponenten des Meeresspiegelanstieges ist für den weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts zunächst eine weitere Dominanz der thermischen Expansion der seichten Ozeanschichten und der Gletscher- und Eiskappenschmelze zu erwarten. Der große Beitrag der Gletscher- und Eiskappenschmelze wird gegen Ende des Jahrhunderts aufgrund des fortgeschrittenen Gletscherschwunds verloren gehen und die thermische Ausdehnung der seichten Ozeanschichten zur alleinigen Hauptkomponente des Meeresspiegelanstieges werden. Die tieferen Ozeanschichten werden weiterhin einen geringen, kontinuierlichen Beitrag liefern. Die genaue Quantifizierung ihres Beitrags ist noch mit Unsicherheiten verbunden, die nur durch vermehrte hochqualitative Messungen verringert werden können. Der Prozess der in die tieferen Ozeanschichten vordringenden Wärmewelle würde sich auch bei einem Abklingen der globalen Erwärmung fortsetzen. Auch in den nächsten Jahrhunderten und Jahrtausenden wird bei anhaltender globaler Erwärmung das Abschmelzen Grönlands und von Teilen der Antarktis den Meeresspiegel zunehmend beeinflussen, während der Anteil durch die Erwärmung des Ozeanwassers und der Gletscher und Eiskappen immer geringer wird.
Unsicherheitsfaktoren Kalbungsrate, Schelfeisstabilität, Rückzug der Aufsetzlinie (grounding line) von Eisströmen
Große Unsicherheiten in den Zukunftsszenarien liegen noch im Verhalten der Inlandvereisungen der Antarktis und Grönlands. Grundlegende Ursache dieser Unsicherheiten ist das noch unvollständige Wissen über die für den Meeresspiegelanstieg entscheidenden Prozesse wie das Kalben der Ausflussgletscher der Eischilde in die Ozeane (Abb. 1 und 2). Die Massenbilanzen der Eisschilde sind momentan noch mit großen Fehlerbalken versehen. Erst durch ein detailliertes Prozessverständnis kann man diese Prozesse in Modelle packen und somit wissenschaftlich legitime Zukunftsszenarien berechnen.
20 cm oder 2 m?
Im Bewusstsein dieser Probleme wird im aktuellen IPCC-Bericht (Fox-Kemper u.a. 2021) der mittlere Meeresspiegelanstieg zwischen 40 und 80 cm bis 2100 angegeben. Dieser weite Unsicherheitsbereich begründet sich nicht nur durch mangelndes Prozessverständnis der Anstiegsursachen sondern auch durch die unterschiedlichen Emissionsszenarien sowie die Unsicherheit der Klimamodellierung selbst. Für die in den Modellen überhaupt noch nicht vertretenen Prozesse, wie ein Ansteigens der Kalbungsraten aufgrund einer verstärkten Eisdynamik oder andere Instabilitäten wird im IPCC-Bericht ein möglicher zusätzlicher Meeresspiegelanstieg 80 cm zwar als unwahrscheinlich aber prinzipiell möglich abgeschätzt. Vergleicht man das mit den Zahlen jüngerer Arbeiten, so bewegen sich die Annahmen des IPCC im unteren Bereich. Pfeffer u.a. (2008) berechneten unter der Annahme einer beschleunigten Eisdynamik einen maximal möglichen Meeresspiegelanstieg zwischen 0,8 und 2 m bis zum Jahr 2100. Die Berechnungen von Jevrejeva u.a. (2010) liefern einen Meeresspiegelanstieg bis 2100 zwischen 0,6 und 1,6 m.
Hunderte Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen
Bedenkt man, dass weltweit etwa 160 Millionen Menschen in Regionen leben, die sich weniger als 1 m über dem Meeresspiegel befinden, so lassen sich die globalen Konsequenzen in etwa erahnen. Das Auftreten von etwa 100- oder 1.000-jährigen Flutwellenereignissen wird sich dem Meeresspiegelanstieg entsprechend häufen. Für die Adaptierung von Küstenschutzbauten ist es daher etwa eine entscheidende finanzielle Frage, die weltweit über Milliardenbeträge entscheidet, ob sie um 0,2, 0,6 oder sogar 1 m erhöht werden müssen.
Insgesamt ist der breite Unsicherheitsbereich für diese vielleicht ernsthafteste aller Folgeerscheinungen des Klimawandels im Hinblick auf die notwendigen Anpassungsmaßnahmen unbefriedigend. Auf Seiten der Wissenschaft wird daher zurzeit mit Nachdruck an den offenen Fragen wie der Eisdynamik der Antarktis und Grönlands gearbeitet. Jüngste Veröffentlichungen von Messdaten und dazugehörigen Modellrechnungen geben bezüglich der Gefahr von katastrophalen Eisausbrüchen auf Grönland oder eines plötzlichen Aufschwimmens des unterhalb der Meeresoberfläche aufsitzenden westantarktischen Eisschildes eine vorsichtige Entwarnung. Auf die Fachliteratur zu diesem spannenden Stück Wissenschaftsgeschichte wird aber besonders hingewiesen, vor allem auf den Special Report on the Ocean and the Cryosphere in a changing climate ( (SROCC www.ipcc.ch/srocc/).
Der Einfluss des Klimaschutzes auf den unmittelbaren Anstieg bis 2050 ist eher gering, da die Eisschilde und Ozeane sehr träge sind. Bis 2100 macht es aber schon einen Unterschied von fast 40cm, welchen Emissionspfad die Menschheit wählen wird (siehe Abbildung 3).
Eine wesentliche Erkenntnis ist aber, dass der Meeresspiegel auch nach 2100 noch vermutlich über Jahrhunderte weiter steigen wird, selbst bei maximalem Klimaschutz, weil das derzeitige Temperaturniveau viel zu hoch ist, und die kontinentalen Eisschilde sehr träge und langfristig auf thermische Veränderungen reagieren.
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