Baumringe
Klimazeuge Baum
Schon Leonardo da Vinci beschrieb die Abhängigkeit der Jahresringe in Bäumen von Klimabedingungen. Eine wissenschaftliche Spezialdisziplin wurde die Dendroklimatologie jedoch erst im 20. Jahrhundert. Aufgrund der jährlichen Auflösung und der genauen Datierbarkeit zählt sie zu den am häufigsten verwendeten Methoden zur Klimarekonstruktion für die Zeit vor direkten Messungen. Die längsten aus lebenden und fossilen Stämmen zusammengesetzten Chronologien reichen 10.000 Jahre zurück.
Das jährliche Baumwachstum ist besonders in der Kampfzone, nahe der polaren Baumgrenze oder der vertikalen Baumgrenze im Gebirge, von der Temperatur der Sommermonate mitbeeinflusst. Niederschlagssensitiv werden Baumringe in Trockengebieten, wo das Baumwachstum durch den Niederschlag und die Bodenfeuchte begrenzt wird. Die Dendroklimatologie verwendet die jährlich aufgelösten Wachstumsringe für die Rekonstruktion und Analyse vergangener Klimavariabilität. Meist wird die einfache Jahrringbreite (ring width, RW) mit anderen Eigenschaften wie der maximalen Spätholzdichte (maximum latewood density, MXD) kombiniert (Abb. 1, Abb.2).
- Abb. 1: Dendroklimatologische Praxis. Links: Beproben einer niederschlagssensitiven Schwarzföhre auf der Hohen Wand zur Rekonstruktion des Niederschlags im Raum Wien (Grabner M., Institut für Holzforschung, BOKU Wien). Rechts: Stammscheibe aus einer Holzkonstruktion des Schlosses Tirol in Meran aus dem 14. Jahrhundert (Nicolussi K., Institut für Geographie, Universität Innsbruck).
- Abb. 2: Siebenjähriger Ausschnitt (942–948) aus einem Lärchenholzbalken eines alten Walliser Gebäudes. Unter dem Mikroskop sind die Dichteunterschiede zwischen den großen Zellen des Frühholzes und den komprimierten Zellen des Spätholzes zu sehen. Die überlagerte Kurve gibt die gemessenen Holzdichten an (Esper u.a. 2007).
Zeitliches Puzzle
Durch die Sammlung und wechselseitige zeitliche Einreihung vieler einzelner, auch längst abgestorbener Holzstücke lässt sich ein immer länger zurückreichender Klimakalender einer bestimmten Region erstellen. Aus einigen Gegenden sind Dendroklimatologien von mehreren tausend Jahren erarbeitet worden. Ein bis ins 8. Jahrhundert zurückreichender temperatursensitiver Baumringkalender aus den Alpen ist in Abbildung 3 (vgl. auch HISTALP) zu sehen. Abbildung 4 zeigt eine 500-jährige Niederschlagsrekonstruktion aus Schwarzföhren im Raum südlich von Wien. In den Ostalpen konnten zum Teil mehrere Jahrtausende alte Baumstrünke aus den Moränen des Gepatschferners und der Gletscherzunge der Pasterze zur kombinierten Klimarekonstruktion mit historischen Archiven benutzt werden.
- Abb. 3: Aus Jahrringen rekonstruierte Sommer-Frühherbst-Temperatur (Juni bis September) in den Alpen 755–1850 (schwarz) und entsprechende hochalpine HISTALP-Messdaten 1851–2006 (rot). Dargestellt sind jährliche Abweichungen vom Mittel der Jahre 1901–2000 (dünne Linien) und deren geglättete Trends (dicke Linien) (Büntgen u.a. 2005, 2006; Auer u.a. 2007).
- Abb. 4: Aus Jahrringen rekonstruierter Sommerniederschlag (Juni bis August) im Wiener Raum 1436–1996 (jährliche Abweichungen vom Mittel der Jahre 1961–1990, türkise Stufen), deren geglätteter Trend (türkise Linie, 31-jähriger Gauß’scher Tiefpassfilter) sowie die ebenso geglättete Messreihe Wien-Hohe Warte 1841–2009 (blaue Linie) (Strumia 1999; Auer u.a. 2007).
Temperatur – oder doch Boden, Nährstoffe, Schnee und Wind?
Die größte Schwierigkeit in der Dendroklimatologie besteht in der Filterung des gewünschten Klimasignals. Andere Einflüsse wie die Bodenbeschaffenheit, Nährstoffversorgung, Abschattung durch schneller wachsende Bäume, lang andauernde Schneedecke oder Windbruch überlagern das rein temperatur- oder niederschlagsabhängige Wachstum. Außerdem wachsen Bäume in den ersten Jahren schneller als später. Erst nach der Durchführung statistischer Methoden, wie der Herstellung einer soliden Beziehung zwischen Wachstum und Temperatur oder Niederschlag für jenen Zeitraum, in dem sich die Baumringdaten mit Klimamessdaten überschneiden (Kalibration), oder der Anpassung an das Alter der Wachstumsschicht (cambial age) liefern Baumringe verwertbare Hinweise auf vergangene Klimazustände. Besonders Merkmale der mittelfristigen Klimaentwicklung von Jahrzehnten und Jahrhunderten werden gut erfasst. Allerdings macht das Klimasignal selbst im Idealfall nur rund 60 % der in den Bäumen gemessenen Variationen aus. Außerdem sind die Ergebnisse jahreszeitlich hauptsächlich auf die Wachstumsperiode bezogen. Die Vorteile der jährlichen Auflösung und der absoluten Datierbarkeit machen die Dendroklimatologie jedoch zu einer der wichtigen Informationsquellen für das Klima der vorinstrumentellen Zeit.
Alpen: Viele Möglichkeiten, viele Schwierigkeiten
Der Alpenraum zählt auch im Hinblick auf das Potenzial anderer Proxies zu den höchstentwickelten Gegenden der Erde. Abbildung 5 enthält eine Übersichtskarte der wissenschaftlichen Baumringstandorte, die im Rahmen eines EU-Forschungsprojekts mit dem Ziel der Zusammenschau von direkten und indirekten Klimadaten mit Modellläufen entstand. Allerdings ist die Klimaentwicklung in den Alpen schwierig zu erfassen, vor allem wenn es darum geht, die gesammelten Punktinformationen mit physikalischen regionalen Klimamodellen zu einem konsistenten Gesamtbild zusammenzufügen.
- Abb. 5: Die zum Zeitpunkt 2006 existierenden Standorte mit analysierter Klimainformation im Großraum Alpen. Angeführt sind die verschiedenen Baumarten (ABAL Abies alba, Weißtanne – LADE Larix decidua, Lärche – PCAB Picea abies, Fichte, Rottanne – PICE Pinus cembra, Zirbe – PINI Pinus nigra, Schwarzföhre – PISY Pinus sylvestris, gemeine Kiefer, Rotföhre) (Böhm 2006).
Bildergalerie:
Literatur:
Auer I., Böhm R., Jurkovic A., Lipa W., Orlik A., Potzmann R., Schöner W., Ungersböck M., Matulla C., Briffa K., Jones P.D., Efthymiadis D., Brunetti M., Nanni T., Maugeri M., Mercalli L., Mestre O., Moisselin J.M., Begert M., Müller-Westermeier G., Kveton V., Bochnicek O., Stastny P., Lapin M., Szalai S., Szentimrey T., Cegnar T., Dolinar M., Gajic-Capka M., Zaninovic K., Majstorovic Z., Nieplova E. (2007): HISTALP – historical instrumental climatological surface time series of the Greater Alpine Region 1760–2003. International Journal of Climatology 27, 17–46, doi:10.1002/joc.1377
Böhm R. (Hg.) (2006): ALP-IMP. Multi-centennial climate variability in the Alps based on instrumental data, model simulations and proxy data. Wien: Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, Projektbericht, 102 Seiten (PDF-Datei; 5,6 MB)
Böhm R. (2010): Heiße Luft – nach Kopenhagen. Reizwort Klimawandel. Fakten – Ängste Geschäfte. 2. Aufl. Wien, Klosterneuburg: Edition Va Bene, 280 Seiten, ISBN 978-3851672435
Büntgen U., Esper J., Frank D.C., Nicolussi K., Schmidhalter M. (2005): A 1052-year tree-ring proxy for Alpine summer temperatures. Climate Dynamics 25, 141–153, doi:10.1007/s00382-005-0028-1
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Esper J., Büntgen U., Frank D.C., Nievergelt D., Liebhold A. (2007): 1200 years of regular outbreaks in Alpine insects. Proceedings of the Royal Society B 274, 671–679, doi:10.1098/rspb.2006.0191
Gornitz V. (Hg.) (2009): Encyclopedia of paleoclimatology and ancient environments. New York: Springer, 1049 Seiten, ISBN 978-1-4020-4551-6
Nicolussi K. und Patzelt G. (2001): Untersuchungen zur holozänen Gletscherentwicklung von Pasterze und Gepatschferner (Ostalpen). Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie 36, 1–87 (PDF-Datei; 9,8 MB)
Strumia G (1999): Tree-ring based reconstruction of precipitation in Eastern Austria. Wien: Universität für Bodenkultur Wien, 119 Seiten, Dissertation (PDF-Datei; 9,24 MB)