Hochwasser

Rekonstruktion von Hochwassererrisiko

Um belastbare Aussagen zu Trends im Hochwassergeschehen zu erzielen, sind gemessene Pegel- und Abflusszeitreihen zu kurz (einige Jahrzehnte zurückreichend). Historische Aufzeichnungen können für europäische Flüsse den Zeitraum bis ins Mittelalter ausdehnen. Moderne statistische Verfahren liefern Konfidenz- oder Unsicherheitsbänder, welche zur Interpretation der Ergebnisse unerlässlich sind.

Ob der Klimawandel die Auftrittsrate (Wahrscheinlichkeit bzw. Risiko pro Zeiteinheit) extremer Hochwasser verändert, ist eine viel diskutierte Frage. Die empirische Überprüfung der Annahme, mit der Temperatur und damit dem Wasserdampfgehalt der Atmosphäre stiege auch die Auftrittsrate, ist schwierig, weil viele Einflussfaktoren wirken und die durch Messungen abgedeckten Zeiträume kurz sind. Hochwasser der Flüsse Elbe und Oder sind durch historische Aufzeichnungen gut belegt. Dies gestattet die Rekonstruktion langer Zeitreihen als Basis für nichtstationäre Risikoanalysen.

1-2-7_1_Karte_Elbe_Oder
Abb. 1: Elbe und Oder mit wichtigen Orten zu historisch belegten oder gemessenen Hochwasserereignissen, orografischen Niederschlag fördernde Mittelgebirge (Mudelsee M., Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven).

Die größte Herausforderung bei der Rekonstruktion historischer Hochwasserereignisse ist Homogenität: Variationen in den Daten sollen durch das System Klima-Hydrologie verursacht sein und nicht durch Änderungen der Aufzeichnungsbedingungen. Für Elbe und Oder heißt dies:
(1) Beschränkung auf mittlere Flussabschnitte (Litomerice–Magdeburg bzw. Raciborz–Kostryn), (2) Unterscheidung von hydrologischem Sommer (Mai–Oktober) und Winter (November–April) mit entsprechenden unterschiedlichen Hochwasserursachen (etwa Eisstau im Winter) und (3) Beschränkung der Interpretationen auf den Zeitraum ab dem Jahr 1500.

Mehr Hochwasser? Nur lange, homogene Hochwasserreihen geben Antwort

Ältere Ereignisse, obwohl von den Weikinnschen Quellentexten abgedeckt, sind lückenhaft dokumentiert: Buchdruck gab es in Europa erst ab den 1460er-Jahren, Chronisten waren noch nicht von der „Kopernikanischen Wissenschaftsrevolution“ erfasst. Die aufgenommenen Ereignisse sind durch mehrere Quellen belegt, halten einer „hydrologisch-meteorologischen Konsistenzprüfung“ (etwa Zusatzbelege über gleichzeitige Hochwasser in Nebenflüssen oder vorangehende, lang anhaltende Regenfälle) stand und sind durch historisch-kritische Untersuchungen bestätigt. Dem qualitativen Charakter der historischen Aufzeichnungen entsprechend sind die Ereignisse in Stärkeklassen (1 = leichtes, 2 = starkes, 3 = sehr starkes Hochwasser) unterteilt.

1-2-7_2_Weikinnsche_Texte
Abb. 2: In der von Curt Weikinn (1888–1966) angelegten Sammlung sind zahlreiche Meldungen zum Winterhochwasser 1655 enthalten. Zu der Zeitangabe (16.–17. 2. 1655, Gregorianischer Kalender) finden sich hier Informationen zur Ursache (Eisgang) und der relativen Pegelhöhe (10 [Dresdner] Ellen) (Börngen M., Institut für Geophysik und Geologie, Universität Leipzig; Deutsch M., Geographisches Institut, Universität Göttingen).

Die Weikinnschen Texte enden mit dem Jahr 1850, jedoch stehen für Elbe und Oder Messungen (Pegelhöhe, Abfluss) zur Verfügung, die die Reihen bis 2002 ergänzen. Die Messungen reichen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, so dass ein langer Überlappungsbereich mit den historischen Aufzeichnungen, die teilweise auch Messwerte enthalten (für die Elbe ab 1501 Dresden, Pillnitz und Meißen, für die Oder ab 1595 Krosno), existiert. Die so rekonstruierten Hochwasserzeitreihen umfassen für die Elbe 362 Ereignisse im Zeitraum 1021–2002, für die Oder 251 Ereignisse im Zeitraum 1269–2002.

Änderungen im Hochwasserrisiko: Statistische Analyse

Für „Risiko“ existieren viele Definitionen. Wissenschaftlich eindeutig und praktisch hilfreich ist „Risiko = Wahrscheinlichkeit“ (dass ein schädliches Ereignis auftritt). Eine statistische Schätzung ist ein Rezept, wie von rekonstruierten Hochwasserdaten auf die unbekannte Hochwasserwirklichkeit geschlossen werden kann. Weil gemessene Daten nicht exakt und in ihrer Anzahl begrenzt sind, zeigt die Schätzung eine Unsicherheit.

Die einfachste Schätzmethode ist Abzählen. Die Anzahl der Ereignisse pro Jahrzehnt, gegen die Zeit (Mitte des Jahrzehnts) aufgetragen, ergibt eine Risikokurve (genauer eine Kurve der Auftrittsrate = Risiko/Zeiteinheit). Die statistische Wissenschaft verbessert dies. (1) Statt in Zehnjahresschritten lässt sie die Zeit quasikontinuierlich laufen („Kernschätzung“). (2) Statt der Rechteckkernfunktion (Zehnjahresfenster) wählt sie eine glatte Funktion (etwa Gaußkurve): eher von kosmetischer Bedeutung. (3) Sie attackiert das wichtige Problem der Wahl der Breite der Kernfunktion („Warum zehn und nicht 20 Jahre?“) durch ein Optimierungsverfahren (Kreuzvalidierung). (4) Sie zeigt, dass der Einschluss künstlich erzeugter Pseudoereignisse (außerhalb des Beobachtungszeitraums) systematische Schätzfehler an den Beobachtungsgrenzen (für Elbe und Oder Ende 2002) reduzieren. Die mathematische Formel (Abb. 1) gibt die Berechnung eindeutig an; sie ermöglicht Kollegen die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse (und darf deshalb in keinem wissenschaftlichen Aufsatz fehlen).

1-2-7_3_Formel
Abb. 3: Nichtstationäre Risikoanalyse (Mudelsee 2010).λ Auftrittsrate – ^ geschätzt (im Gegensatz zur unbekannten Wirklichkeit) – T quasikontinuierliche Zeit – h Bandbreite der Kernfunktion – Σ Summation – j Index – m† Anzahl Ereignisse (inklusive Pseudoereignisse) – K Kernkunktion – T†out(j) Zeitpunkte der Ereignisse und Pseudoereignisse (z.B. Eishochwasser am 16. 2. 1655 in Dresden T†out(j) = 1655,127)

Mit Computersimulationen („bootstrap resampling“) erzeugt man das Konfidenzband. (1) Ziehen (mit Zurücklegen) einer Zufallsstichprobe gleichen Umfangs aus der Ereignismenge der T†out(j). (2) Neuschätzung, ^λ(T)' (' bedeutet „simuliert“). Die Schritte (1) und (2) werden 2000 Mal wiederholt. Aus den (je T) zentralen 90 % der ^λ(T)' folgt ein 90 %-Perzentilband. Die Mathematik hat noch genauere, hier verwendete Konfidenzintervalltypen entwickelt.

Direkt an diesen methodischen Beitrag schließt der Artikel „Hochwasser“ mit Ergebnissen und Interpretationen im Abschnitt „Klimafolgen“ an. Dieser beantwortet die Frage, zu welchen Änderungen im Hochwasserrisiko es tatsächlich gekommen ist.

 

Literatur:

Wir danken den Gastautoren Dr. Manfred Mudelsee vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven bzw. Climate Risk Analysis in Hannover, Dr. Michael Börngen vom Institut für Geophysik und Geologie der Universität Leipzig und Dr. Mathias Deutsch vom Geographischen Institut der Universität Göttingen.

Brazdil R., Dobrovolny P., Elleder L., Kakos V., Kotyza O., Kvetoe V., Mackova J., Müller M., Stekl J., Tolasz R., Valasek H. (2005): Historical and recent floods in the Czech Republic. Brünn, Prag: Masaryk-Universität, Tschechisches Hydrometeorologisches Institut, 369 Seiten

Brooks M.M., Marron J.S. (1991): Asymptotic optimality of the least-squares cross-validation bandwidth for kernel estimates of intensity functions. Stochastic Processes and their Applications 38, 157–165, doi:10.1016/0304-4149(91)90076-O

Cowling A., Hall P. (1996): On pseudodata methods for removing boundary effects in kernel density estimation. Journal of the Royal Statistical Society, Series B 58, 551–563 (Website)

Cowling A., Hall P., Phillips M.J. (1996): Bootstrap confidence regions for the intensity of a Poisson point process. Journal of the American Statistical Association 91, 1516–1524 (PDF-Datei, 0,27 MB)

Diggle P. (1985): A kernel method for smoothing point process data. Applied Statistics 34, 138–147 (Website)

Glaser R. (2008): Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 264 Seiten

Kuhn T.M. (1981): Die kopernikanische Revolution. Braunschweig: Vieweg, 302 Seiten

Militzer S. (1998): Klima, Umwelt, Mensch (1500–1800): Studien und Quellen zur Bedeutung von Klima und Witterung in der vorindustriellen Gesellschaft, Vol. 1: Studien. Leipzig, 542 Seiten

Militzer S. (1998): Klima, Umwelt, Mensch (1500–1800): Studien und Quellen zur Bedeutung von Klima und Witterung in der vorindustriellen Gesellschaft, Vol. 2: Quellentexte (CLIMDAT) 1500–1699. Leipzig, 839 Seiten

Militzer S. (1998): Klima, Umwelt, Mensch (1500–1800): Studien und Quellen zur Bedeutung von Klima und Witterung in der vorindustriellen Gesellschaft, Vol. 3: Quellentexte (CLIMDAT) 1700–1799. Leipzig, 590 Seiten

Mudelsee M. (2010): Climate time series analysis: Classical statistical and bootstrap methods. Dordrecht: Springer, 474 Seiten, ISBN 978-90-481-9481-0

Mudelsee M., Börngen M., Tetzlaff G., Günewald U. (2003): No upward trends in the occurrence of extreme floods in central Europe. Nature 425, 166–169 (Datenmaterial Elbe PDF-Datei, Datenmaterial Oder PDF-Datei)

Mudelsee M., Börngen M., Tetzlaff G., Grünewald U. (2004): Extreme floods in central Europe over the past 500 years: Role of cyclone pathway “Zugstrasse Vb.” Journal of Geophysical Research 109, D23101, doi:10.1029/2004JD005034

Mudelsee M., Deutsch M., Börngen M., Tetzlaff G. (2006): Trends in flood risk of the River Werra (Germany) over the past 500 years. Hydrological Sciences Journal 51, 818–833, doi:10.1623/hysj.51.5.818

Sturm K., Glaser R., Jacobeit J., Deutsch M., Brazdil R., Pfister C., Luterbacher J., Wanner H. (2001): Hochwasser in Mitteleuropa seit 1500 und ihre Beziehung zur atmospärischen Zirkulation. Petermanns Geographische Mitteilungen 145, 14–23 (PDF-Datei; 2,83 MB)

Thywissen K. (2006): Components of risk: A comparative glossary. Bonn: United Nations University, Institute for Environment and Human Security, 48 Seiten

Wasserman L. (2004): All of statistics: A concise course in statistical inference. New York: Springer, 442 Seiten, ISBN 978-0-387-40272-7

Weikinn C. (1958): Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850: Hydrographie, Teil 1 (Zeitwende–1500). Berlin: Akademie-Verlag, 531 Seiten

Weikinn C. (1960): Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850: Hydrographie, Teil 2 (1501–1600). Berlin: Akademie-Verlag, 486 Seiten

Weikinn C. (1961): Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850: Hydrographie, Teil 3 (1601–1700). Berlin: Akademie-Verlag, 586 Seiten

Weikinn C. (1963): Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850: Hydrographie, Teil 4 (1701–1750). Berlin: Akademie-Verlag, 381 Seiten

Weikinn C. (2000): Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahr 1850: Hydrographie, Teil 5 (1751–1800). Berlin: Gebrüder Borntraeger, 674 Seiten (Hg. Börngen M., Tetzlaff G.)

Weikinn C. (2002): Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahr 1850: Hydrographie, Teil 6 (1801–1850). Berlin: Gebrüder Borntraeger, 728 Seiten (Hg. Börngen M., Tetzlaff G.)

Anmerkung: Für polnische und tschechische Personennamen und geografische Namen wurde die deutsche Schreibweise ohne Akzente gewählt.

Sonnblick-Observatorium
zur Sonnblick-Website (© ZAMG)
Phänologie-PhenoWatch
zum Phänologie-Portal (© ZAMG)
HISTALP
zur HISTALP-Website (© ZAMG)