Gletschermodellierung
Gletscher fließen lassen
Die einzige Möglichkeit, die künftige Entwicklung von Gletschern und Eisschilden als Reaktion auf Klimaänderungen quantitativ zu bestimmen, ist deren Simulation unter Zuhilfenahme einer durch Messdaten abgesicherten Modellvorstellung. Umgekehrt können diese Modelle auch verwendet werden, um aus beobachteten Gletscherfluktuationen Informationen über Klimaänderungen abzuleiten.
Um die Reaktion von Gletschern und Eisschilden auf Klimaänderungen berechnen zu können, muss zunächst die direkt vom Klima gesteuerte Massenbilanz an der Gletscheroberfläche unter Verwendung von Klimadaten simuliert werden. Für die Berechnung der Schneeakkumulation werden im einfachsten Fall der Niederschlag und die Temperatur einer nahegelegenen Klimastation verwendet. In komplexeren Modellen werden auch Schneeverfrachtung durch Wind oder Lawinen berücksichtigt.
Grundlegende Simulation der Massenbilanz
Für die Berechnung der Ablation gibt es zwei unterschiedliche Ansätze: Bei der Gradtagsmethode setzt man die Ablationsraten direkt mit der Lufttemperatur in Bezug, ohne die Abschmelzung selbst physikalisch zu beschreiben. Dieser Ansatz wird vor allem in Regionen verwendet, in welchen andere Klimamessungen als jener der Lufttemperatur nicht vorhanden sind, was für den größten Teil der vergletscherten Regionen der Erde der Fall ist.
Der deutlich aufwändigere Ansatz führt über die Berechnung der Energieflüsse an der Gletscheroberfläche. Hier können die konkreten Antriebsgrößen der Abschmelzung (z.B. Strahlungsbilanz, Flüss fühlbarer und latenter Wärme) getrennt berücksichtigt werden. Um gute Resultate zu erzielen, benötigt man jedoch exakte, zeitlich hochauflösende meteorologische Messdaten, die oft nicht vorhanden sind und die Anwendung dieses an sich exakteren Modelltyps stark einschränken.
Aufbauende Simulation des Eisfließens
Will man die Entwicklung eines Gletschers nun über längere Zeiträume simulieren, muss man zusätzlich zur Massenbilanz an der Gletscheroberfläche auch die Fließdynamik des Gletschers berücksichtigen. Ansonsten würde der modellierte Gletscher im Akkumulationsgebiet ständig dicker und im Ablationsgebiet immer dünner. Verglichen mit der Massenbilanz ist die Modellierung der Fließdynamik eines Gletschers schwieriger, da komplexe Bewegungsgleichungen gelöst werden müssen.
Derartige Modelle können durch den Vergleich von beobachteten und simulierten Gletscherständen der Vergangenheit getestet werden. Abbildung 1 zeigt eine Simulation der Entwicklung des Schweizer Rhonegletschers im Laufe des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu historischen Fotografien. Aufgrund der guten Übereinstimmung kann man davon ausgehen, dass das Modell in der Lage ist, die Entwicklung des Gletschers im 21. Jahrhundert unter Annahme verschiedener Klimaszenarien einigermaßen gut zu prognostizieren (Abb. 2).
Eisschildmodellen kommt entscheidene Bedeutung zu
Um die Entwicklung der kontinentalen Eisschilde zu simulieren, müssen die Modelle zusätzliche physikalische Prozesse berücksichtigen. Eisschildmodelle beschreiben auch thermodynamische Prozesse, isostatische Ausgleichsbewegung der Erdkruste und die Interaktion mit dem Ozean. Typische Anwendungsbeispiele sind Studien der Vereisung der Erde während vergangener Klimaepochen sowie Projektionen des Rückzugs der Eisschilde unter Bedingungen der globalen Erwärmung. Weltweit betreiben und entwickeln einige Forschergruppen Eisschildmodelle (z.B. Glimmer-CISM, PISM, SICOPOLIS, ISSM oder für didaktische Zwecke vereinfacht GRANTISM). Meist sind der Programmcode und Dokumentation frei erhältlich und stehen der gesamten Wissenschaft zur Verfügung.
Momentane Forschungsschwerpunkte bei der Weiterentwicklung von Eisschildmodellen liegen u.a. in der Interaktionen zwischen Eis und Fels bzw. Eis und Ozean (Kalben und Schelfeisbildung), der räumlichen Veränderung der Grenze zwischen am Meeresgrund aufliegendem und schwimmendem Eis (Grounding Line) und der Abschätzung der Modellunsicherheiten (Abb. 3).
Veränderungen der Inlandseismassen der Antarktis und Grönlands haben über Rückkoppelungseffekte entscheidende Auswirkungen auf das globale Klima. Dies erfolgt beispielsweise über die Albedo, die die atmosphärische Zirkulation beeinflusst, oder über veränderte Schmelzwasserströme, die die Ozeanzirkulation ändern. Aus diesem Grund sind vereinfachte Versionen von Eisschildmodellen mit globalen Klimamodellen gekoppelt.
Literatur:
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